Klaus Kirchner spricht mit Stephanie Ahl am 1.1.2020 in Wien über Autismus
Klaus: Du hast etwas mit Autistinnen und Autisten zu tun?
Stephanie: Das stimmt. Ich bin Sonderschulrektorin, in Österreich sagt man Direktorin, und leite in Berlin eine Schule, die Temple- Grandin-Schule im Stadtteil Friedrichshain, die seit über 20 Jahren den Auftrag hat autistische Schülerinnen und Schüler zu unterrichten. Es ist einzigartig in Deutschland, dass es dafür eine Extra-Schule gibt. In Berlin gibt es zwei davon. Das Kollegium beschäftigt sich sehr weit und tief gehend mit dem Thema. In unserer Schule gibt es drei verschiedene Formen des Unterrichtens, oder wie man in Deutschland sagt, Beschulens (siehe weiter unten im Text).
Früher hat man in frühkindliche Autisten, Asperger u.a. eingeteilt. Heute sprechen wir eher von Schülerinnen und Schülern im autistischen Spektrum. In diesem Spektrum – wir stellen uns eine halbe Scheibe vor – kann man von ein bis 180 Grad verschiedene Formen des Autismus wahrnehmen. Ein geflügeltes Wort ist: Kennst Du einen Autisten, kennst Du einen.
Alle sind anders. Trotzdem haben sie bestimmte Merkmale, bei denen wir uns darauf einrichten können, dass sie DAS und DAS brauchen und deswegen bei uns sind.
Klaus: Ich erinnere mich daran, als das Kino den Autismus entdeckt hat: 1984 Birdy, 1988 Rain Man. Dann wurden mehrere Romane geschrieben, die bei mir das Gefühl erzeugten: Wow, was für interessante Menschen gibt es doch! Aktuell habe ich mit Greta Thunberg (Fridays for Future) den Eindruck: Eine Autistin rettet die Welt!
Gleichzeitig werden Menschen als autistisch beschimpft, wenn sie z.B. mit Kopfhörern und den Augen auf einem Wischtelefon mit dem Elektroroller an den Menschen vorbei durch die Fussgängerzone rasen. Als Menschen, die man nicht erreichen kann, weil sie so sehr mit sich selbst beschäftigt sind.
Welches dieser Bilder trifft denn die Realität?
Stephanie: Keines der beiden.
Autismus ist in Berlin im Fokus, seit sich im ehemaligen West-Berlin eine Eltern-Initiative dieser Schülerinnen und Schüler angenommen hat. Bis dahin wurden sie nur im Hausunterricht beschult, wobei es zu keiner sozialen Kontaktaufnahme gekommen ist. Das waren damals sehr stark vom Autismus Betroffene, zum Teil nicht sprechende Autistinnen und Autisten, die nicht zwangsläufig als geistig behindert betrachtet werden konnten. Es gab Eltern-Initiativen, aus denen z.B. Autismus Deutschland hervorgegangen ist. Eltern-Initiativen, die diese Kinder in kleineren Wohneinheiten zusammengefasst und dort betreut und beschult haben. Dann ist man an eine Schule herangetreten, die den Auftrag übernommen hat, in Kooperation zu gehen: die Schule hat hat die Lehrerinnen und Lehrer gestellt. und Autismus Deutschland die Erzieherinnen und Erzieher. So wurden besondere Schulungs-Formen ermöglicht, damit die Kinder nicht nur zu Hause bleiben – fern der Realität. Das ist der Auftrag, den unsere Schule übernommen hat.
Das ist in keiner Weise so wie im Film. Rain Man trifft vielleicht die Beschreibung einer Insel-Begabung: jemand der mit Zahlen viel macht, aber eigentlich unfähig ist, in dieser Welt zurecht zu kommen und soziale Kontakte zu pflegen. Menschen aus dem autistischen Spektrum können nicht als asozial bezeichnet werden. Nach neuesten Erkenntnissen sind das Menschen, die eigentlich ZU VIEL* wahrnehmen. Alles strömt auf sie ein und sie müssen das wegfiltern. Es wird quasi ein Schleier genommen, um mit den vielen Eindrücken klar zu kommen, die die Umwelt bringt.
Dazu kommt, dass es diesen Menschen schwer fällt, die Bedeutung von Mimik und Gesten abzulesen: Wenn ich dich anlächle, dann weisst du, was das bedeutet: Ich trete mit dir in Kontakt, eine Einladung zum HALLO sagen, oder dir ist etwas runtergefallen und ich finde das lustig. …
Dann gibt es bei ihnen auch eine verzögerte Wahrnehmung, z.B. in einem Gespräch stellst du eine Frage, die dein Gegenüber nicht beantwortet. Du denkst: Die Person ist ein wenig komisch. Aber es kann passieren, dass dir diese Person in zwei Stunden auf die Frage antwortet – oder in zwei Tagen.
Was alle betrifft ist: Sie müssen gut vorbereitet werden, wenn sich etwas verändert. Weil sie so viele Details wahrnehmen, brauchen sie eine gleichbleibende Struktur. Sie wollen in einem gleichbleibenden Rahmen mit möglichst gleichen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern beschult werden. Sie werden langsam auf Veränderungen vorbereitet: Heute wird der und der kommen.
Es geht nicht darum, dass sie nicht damit umgehen können, wenn sich etwas verändert, sondern dass sie darauf vorbereitet werden müssen. Greta Thunberg reist um die Welt. Wenn ich sehe, in welchem Tempo sie mit einem Segelboot nach New York gefahren ist, dann ist das doch etwas, was uns allen gut tut: sich einen Weg zu nehmen, um da anzukommen. Ansonsten wird sie stark abgeschirmt. Interviews sind für Autistinnen und Autisten ein Horror. Sie setzen sich unter einen wahnsinnigen Druck: Was wird von mir in diesem Moment erwartet, das ich beantworten muss? Was passiert da?
Das sind Klippen. Spontanität ist für sie wahnsinnig schwierig.
Einige von ihnen haben Insel-Begabungen. Man kann einen nicht sprechenden Autisten treffen, der ein Faible für Farben oder eine Fremdsprache hat. Es ist schwierig herauszufinden, was er schon kann. Das erleben wir im Schulalltag ganz oft: Am Anfang – wenn sie in die Schule kommen – kann man ganz schwer einschätzen, was sie leisten können. Jemand wird als schwer betroffener Autist eingeschätzt, kann aber schon lesen und rechnen, hat Spass daran mathematische Reihen zu erkennen.
Unterrichtselemente wie Projekt-Tage sind an Schulen beliebt. Ein schwer betroffener Autist kann dabei aber total aussteigen und sagen: Ich wünsche mir meinen Montag-bis-Freitag-Unterricht wieder! Ich möchte diese Nicht-Struktur nicht haben! Pausen können für Autistinnen und Autisten schwierig sein, weil es unüberschaubare Situationen sind. Ich weiss nicht, was da mit mir passiert. Das gilt es gut vorzubereiten.
Klaus: Wenn ich um mich schaue: Die Welt wird immer dynamischer, immer unregelmässiger, es gibt immer weniger gleichbleibende Rhythmen – in den Familien oder im Tagesablauf von Menschen. Führt das zu einem Anwachsen von Autismus? Oder wird er nur verstärkt wahrgenommen? Alle müssen ununterbrochen improvisieren und diejenigen, die am schlechtesten improvisieren können, fallen auf und man gibt ihnen einen Namen?
Stephanie: Sicherlich ist man heute viel sensibler in der Wahrnehmung solcher Menschen, die früher schnell aussortiert wurden.
In der Diagnostik stellt man fest: Mädchen sind viel anpassungsfähiger als Buben und können damit ihren Autismus leichter verstecken. Es ist verrückt: An unserer Schule haben wir immer mehr Mädchen und können daher jetzt beobachten, auf welche Weise Autismus bei Mädchen auftritt.
Klippen – spezielle Momente – können die besonderen Themen dieser Menschen sein. Wenn man diese Themen inhaltlich anstößt, können sie nicht mehr aufhören. Sie reden dann ausschliesslich über dieses Thema. Das ist auch etwas, was wir mit ihnen üben müssen: Es reicht, wenn du fünf Sätze zu dem Thema sagst. Andererseits kann das auch eine zu starke Einschränkung sein. Wir als Pädagoginnen und Pädagogen müssen mit ihnen diese Dynamik ausprobieren. Insgesamt könnte man sagen, dass wir mehr hinschauen, um wahrzunehmen, wie diese Menschen sind. Es gibt in Deutschland den inzwischen emeritierten Professor Georg Theunissen*, der sagt: Die einen sind SO. Die anderen sind SO. Autismus ist eine Form des SO-Seins. Eine gute Form der Erklärung des Autismus ist: Wir alle erkennen, dass wir bestimmte Ordnungs-Mechanismen haben und brauchen. Rhythmisierung tut uns gut.
Eine andere Gruppe sagt: In dieser heutigen Welt, mit den auf uns einströmenden Veränderungen, ist Autismus die Folge von Drogenmissbrauch, Strahlung, Impfungen, falscher Ernährung. Aber das sind meistens nicht wissenschaftlich überprüfte Theorien. Bei der Erforschung des Autismus wurde allerdings festgestellt, dass es erbliche Faktoren gibt: In einer Familie, in der es Autismus gibt, wird der Autismus auch weitergegeben. Wir stellen in unserer Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern und den Eltern fest, dass zum Beispiel ein Schüler als Autist diagnostiziert ist, wir aber im Gespräch mit den Eltern merken: Oh, da gibt es auch eine elterliche Disposition.
Manche Eltern haben ganz schlechte Schulerfahrungen gemacht und übertragen diese dann auf uns. Es gibt eine große Bandbreite.
Statistisch und wissenschaftlich belegt ist es auch: wenn ein Autist in der Familie erscheint, gibt es oft noch ein weiteres Geschwisterkind mit Autismus. Das beobachten wir auch in unserem Alltag.
Bei der heutigen Sicht auf den Autismus, siehe Greta Thunberg und andere, wird ein wenig übersehen, dass es SO stark betroffene Autistinnen und Autisten gibt, die ein ganz besonderes Setting brauchen. Bei denen es niemals dazu kommen wird, dass sie ihr eigenes Leben autonom gestalten können, dass sie immer eine starke Betroffenheit haben. Die Idee vieler Eltern ist: man gibt sie zu uns und dann wird das Kind auf eine Art repariert oder man wird noch den genialen Geist entdecken. Aber das funktioniert nicht. Das funktioniert ja bei so genannten normalen Kindern auch nicht. Da gibt es auch Eltern, die denken: Da kommt ein Hochbegabter raus. Und das Kind braucht einfach nur, dass es wahrgenommen wird, wie es ist.
Das Spannende an der Arbeit mit Autismus ist, dass wir vieles in der Schule nicht wirklich planen können. Wir nehmen aktiv JEDEN Tag DIESES Kind wahr, wie es drauf ist. Und danach gruppieren wir den Alltag rund um das Kind. Das ist auch ein Zurückholen ins Jetzt. Ich finde das spannend, aber es kann auch eine riesige Herausforderung sein.
Klaus: Ich hatte das Bild: Autisten sind Menschen mit einer sozialen Behinderung. Wie du es beschreibst, sind sie einfach nur überfordert. Und um sich zu schützen betreten sie nicht so leicht einen sozialen Raum. Ist eure Schule der Versuch, einen sozialen Lern-Raum für diese Kinder zu schaffen?
Stephanie: Ja, auf jeden Fall.
Klaus: Gelingt das?
Stephanie: Die meiste Zeit schon.
In unserer Schule gibt es einen separaten Bereich in einem eigenen Gebäude: dort sind die sogenannten Ganztagskleinklassen. Da sind Kinder, die vom Autismus wirklich schwerst betroffen sind. Es gibt eine große Küche. Man konzentriert sich auf lebenspraktische Sachen, wie miteinander zu essen, und so weiter. Schul-Anteile gibt es auch. Man findet dort Schülerinnen und Schüler, die alle möglichen U-Bahn-Fahrpläne aufsagen können oder anderes. Aber sie werden keinen Schulabschluss erreichen.
Als zweiten Bereich des Unterrichtens haben haben wir die sogenannten Kleinklassen, in denen sechs bis acht Kinder oder Schülerinnen und Schüler im kleinen Rahmen, in einer Art Büro, den normalen Rahmen-Lehrplan bearbeiten. Wenn es gut klappt, können sie den Schulabschluss schaffen, der ihnen möglich ist.
Als dritte Unterrichtsform haben wir den Bereich, in dem ein oder zwei Autisten mit 18 oder 19 anderen Kindern in einer ganz normalen Grundschulklasse lernen. Dabei gibt es eine Begrenzung auf 20 Schülerinnen und Schüler pro Klasse.
In allen Bereichen gibt es einen Tages-Plan. Alle wissen: Morgens fängt der Tag SO an, dann kommt DAS, dann kommt DAS, dann kommt DAS. Es wird immer abgehakt an welcher Stelle man ist. In der Grundschulklasse ist das gröber geplant, in der Kleinklasse ist es deutlicher, in der Ganztagskleinklasse hat jedes Kind seinen individuellen Tages-Plan. Es kann die einzelnen Punkte, die mit Klettverschlüssen befestigt sind, entfernen, bis der Tag leer ist. Es ist wichtig, dass sie wissen: DAS erwartet mich, DAS erledige ich, DAS ist fertig. Dadurch bekommt der Alltag eine Struktur.
Jetzt hast du danach gefragt wie soziales Lernen geht. Das bedeutet: Die Kontakt-Aufnahme miteinander wird begleitet. Sie brauchen jemanden, der oder die ihnen die Sachen übersetzt. Was passiert jetzt mit dem anderen? Wenn du DAS und DAS mit dem anderen Schüler machst, dann passiert DAS und DAS. Das kann man mit ihnen aufbereiten und sie speichern es dann ab. Gee Vero, eine interessante Autistin, sagt: Ich habe ein bestimmtes Reservoire für soziale Interaktionen. Wir sogenannten Normalen haben ein großes Repertoire, sie hat einen begrenzten Speicher. Wenn ihr Speicher im Laufe des Tages erschöpft ist, dann ist nichts mehr möglich. Dann kommt sie in einen Overload, in eine Überladung. Wenn wir dieses Bild verwenden, geht es darum, dem Menschen eine Ruhemöglichkeit, einen Ausstieg aus der Überladung zu geben. Das bedeutet: Manche Schülerinnen und Schüler haben einen kürzeren Tag. Oder sie brauchen eine Entlastungs-Stunde um sich wieder so herunter zu dimmen. Es gibt Autistinnen und Autisten, die sich die ganze Zeit fragen: Bin ich da? Das können sie am besten beantworten, wenn sie Armbänder tragen, sich zwicken, sich selbst berühren, um sich herzuholen oder Sandwesten tragen. Es ist ein ganzes Universum, das es zu entdecken gibt, wo WIR Brücken brauchen, die uns die andere Welt erklären und IHNEN ermöglichen mit einem bestimmten Setting bei uns zu sein.
Wenn wir im Schulprogramm eine Aufführung, Theater oder Musik, haben, führen einige Autistinnen und Autisten total lässig durch das Programm. Sie haben überhaupt nicht das Problem: Was denkt jetzt die Masse von mir? Sie spielen ganz genau ihren Plan ab. Bei anderen habe ich das Gefühl, ich muss sie noch einmal begleiten: Du musst keine Angst vor der grossen Masse haben. Das ist auch spannend zu beobachten.
Klaus: Eure Schule heisst Temple Grandin. Diese Frau ist eine Autistin, die viel erreicht hat. Es gibt nicht nur Greta Thunberg. Temple Grandin hat es messbar gemacht, wie Kühe leiden. Sie hat es geschafft, aus der Schule und geschützten Räumen herauszukommen und in einer Erwachsenen-Arbeitswelt zu sein. Wenn es mehr solche Schulen gibt, wie die, die du leitest, dann werden immer mehr Autistinnen und Autisten im Umgang mit sich selbst und anderen fit werden und aus der Schule heraus in der Arbeits-Welt landen. Würde denen dann nicht Supervision oder ein besonderes Coaching helfen?
Stephanie: Ja.
Klaus: Gibt es diese Supervision?
Stephanie: Es gibt mittlerweile Menschen, die auf Grund eigener Lebenserfahrungen, zum Beispiel durch ihre Kinder, darauf spezialisiert sind und Autistinnen und Autisten etwas an die Hand geben oder ihnen Rückzugsräume ermöglichen können.
Wir haben noch andere Erfahrungswerte. Bei uns können oder müssen Kinder nach der sechsten Klasse in eine Regel-Schule wechseln. Die können da teilweise total scheitern. Das kann soweit führen, dass sie Selbstmord begehen oder mit ihrem ganz normalen Schulabschluss in einer geschützten Werkstätte landen. Weil sie keinen Arbeitgeber finden, der oder die sich darauf einlässt. Manche schaffen den Sprung, studieren und profilieren sich in dem Bereich, den sie sich wünschen. Andere scheitern total. So weit reicht die Spanne. In Berlin gibt es eine universitäre Arbeitsgruppe, die Autismus-Forschungs-Kooperation, geleitet von der WissenschaftlerIN Isabel Dziobek mit betroffenen Autistinnen und Autisten.
Mittlerweile gibt es auch Fälle, bei denen erst sehr spät – mit Mitte 20 – Autismus festgestellt wird. Es gibt auch Betroffene, die sich fragen: Ist es gut diesen Autismus zu diagnostizieren? Autismus wird als psychische Erkrankung gelistet. Was bedeutet das für meinen Lebensweg?
Aber gerade die Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Betroffenen oder mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die selbst betroffen sind, führt zu guten Ergebnissen, um Autistinnen und Autisten gerecht zu werden. Die Sicht der Wissenschaft hat sich dahingehend geändert, dass Betroffene nicht als Objekte betrachtet werden. Man schaut nicht nur von aussen drauf, sondern die Innensicht ist auch wichtig.
Da ist der Lebensweg von Temple Grandin ein unerschöpfliches Beispiel, um zu sehen wie es IN ihr aussieht. Dadurch, dass ihre Mutter viele Anstrengungen unternommen hat, hat Temple Grandin Schulen gefunden, in denen sie persönlich gefördert wurde. Sie hat sich ihr Spezialgebiet – Kühe und tierfreundliche Schlachtanlagen – selbst gesucht. Beim Beobachten von Kühen, hat sie für sich herausfinden können, was für sie selbst wichtig ist: die sogenannte Quetschmaschine zum Beispiel, die Vorrichtung in der die Kühe geimpft wurden. Es hat ihr selbst gut getan, sich in dieser Vorrichtung halten zu lassen.
Bei anderen von Autismus Betroffenen, die nicht kommunizieren können, ist es eine grosse Herausforderung für das Umfeld DAS herauszufinden, was sie brauchen.
Es gibt auch Autistinnen und Autistinnen, die bei Berührung fast ausrasten. Wir anders Seiende brauchen in unserer Welt eine Erklärung, warum da jemand gerade so ausrastet.
Was als asoziales Verhalten beschrieben wird, ist nicht asozial, sondern die mangelnde Fähigkeit, mit bestimmten Situationen umzugehen.
Klaus: Ist nicht der ganze aktuelle politische Rechts-Rutsch im Grunde angetrieben von der Angst von Menschen, mit Unbekanntem umzugehen? Mit fremden Menschen zum Beispiel. Und gerade diejenigen, die selbst kaum Migrantinnen und Migrantinnen kennen, haben am meisten Angst vor ihnen. Leidet die ganze Gesellschaft an Autismus?
Stephanie: Die Angst vor dem Fremden, die Angst vor dem Unbekannten, ist kein Autismus, sondern anders einzuordnen.
Keine Autistin und kein Autist würde sagen, dass es ihr oder ihm Spaß macht, die sozialen Situationen nicht lesen zu können.
Ängste und Pauschalisierungen können nicht als Begründung für Autismus herhalten.
Wir beobachten, dass es sich weit herum-gesprochen hat, dass es im Land Berlin bestimmte Möglichkeiten der Betreuung von Autistinnen und Autisten gibt. Dadurch kommen Menschen aus Bulgarien oder sonstwoher nach Berlin und hoffen, hier den passenden Unterricht für ihr Kind zu finden.
In manchen Fällen ist der Autismus gar nicht das Maßgebliche. Es gibt zum Autismus auch weitere Krankheitsbilder. Oder es kann eine geistige Behinderung vorliegen, die autistische Züge hat. Dann ist diese vorrangig. Es geht darum, das Kind SO anzunehmen wie es ist, und nicht davon auszugehen, dass mit dem Schulbesuch bei uns eine Art Urknall stattfindet und dann alles besser wird.
Klaus: Du hast erzählt, dass es Menschen gibt, bei denen erst im Alter von 20 Jahren Autismus diagnosiziert wird. Bedeutet das, dass das Krankheitsbild – oder die Schwierigkeiten dieser Menschen – dann erstmals auftreten? Ist man sein ganzes Leben lang Autistin oder Autist und kommt mal besser, mal schlechter damit zurecht?
Stephanie: Vor mir saß einmal eine verzweifelte junge Frau, die ein Pädagogik-Studium hinter sich hatte. Sie wusste, sie würde die praktische Prüfung, vor der Klasse zu unterrichten, nicht bestehen. Sie konnte nicht einschätzen, was erwartbare Schülerleistungen sind. Sie ist in ein großes Loch gefallen und dann wurde ihr Autismus festgestellt. Bis dahin hatte sie das die ganze Zeit gut kompensieren können. Sie hat anpassungsmäßig versucht, Strategien zu entwickeln: Wenn sie DAS machen, mache ich DAS. Autistinnen und Autisten können einen riesigen Erinnerungs-Speicher haben.
Es gibt auch Autistinnen und Autisten, die haben diese Diagnose, wollen aber als solche nicht erkannt werden und distanzieren sich davon. Sie versuchen, so angepasst wie möglich zu sein. Oftmals sind das Menschen, die früher als Eigenbrötler bezeichnet wurden, dabei aber zum Beispiel am Gymnasium ziemlich gut klar gekommen sind.
Wir haben aber auch zunehmend eine Bandbreite von Menschen im autistischen Spektrum, die mit dem ganzen Leistungs-System überhaupt nicht klar kommen. Sie kollidieren mit dem Schulsystem.
Klaus: Zum System Schule: Du hast einmal erwähnt, dass in den integrativen Klassen der Temple-Grandin-Schule, wo ein autistisches Kind mit 19 sogenannten normalen Kindern unterrichtet wird, ein grosser Run auch auf die normalen Plätze stattfindet. In Deiner Schule haben Schülerinnen und Schüler eine Stunde Extra-Zeit, um abzuschalten, sich zu entspannen. Es gibt kleine Klassen. … Da kann ich mir vorstellen, dass Eltern von nicht autistischen Kindern sich denken: Ist das nicht unfair? Warum muss mein Kind in das ungeliebte Regel-Schul-System? Warum hat es nicht eine Stunde Extra-Pause? Warum nicht eine kleinere Klasse?
Stephanie: Wir erleben es so, dass es sich schrittweise entwickelt hat. Wir hatten früher Kinder, deren Eltern gedacht haben: Die könnten einen kleineren Rahmen besser gebrauchen und langsamer lernen. Mit der Zeit hat sich das aber verändert: Die Eltern sehen: Die haben kleinere Klassen, die schauen sehr individuell auf jedes Kind, davon profitieren alle Kinder. Die schaffen einen sehr liebevollen Rahmen. Jetzt kommen Eltern von ganz normalen Kindern ohne Einschränkungen zu uns. Dazu kommt noch, dass bei uns in der ersten bis zur dritten Klasse jahrgangs-übergreifend gelernt wird. Es gibt also eine Altersmischung. Das führt dazu, dass für die Kinder, egal ob Autistin oder Autist mit einer Spezialbegabung oder ein sehr schnell lernendes Kind, immer das Material für drei Klassenstufen parat ist. Es gibt Kinder, die sagen: Ich würde gerne mal DAS ausprobieren. Und dann kannst zu ihnen sagen: Gut, mach mal diesen Test, ob du alles notwendige schon beherrschst, und danach kannst du an dem arbeiten was du dir gerade wünschst. Die können sich dann schon mehr zutrauen. Gleichzeitig kann man denen, die langsamer lernen, was auch eine Autistin oder einen Autisten betreffen kann, sagen: Du kannst dir jetzt noch länger Zeit lassen, und mit dem Material noch länger arbeiten.
Ein weiterer Vorteil ist, dass die Kinder oder Schülerinnen und Schüler den anderen etwas beibringen, ihr Wissen weitergeben und es damit vertiefen. Das hat auf alle ausgestrahlt: diese Struktur, dieses Miteinander, das Jahrgangs-übergreifende-Lernen und die kleineren Klassen haben ein Erfolgs-Modell geschaffen. Wir haben einen totalen Run auf diese Klassen.
Gerne würden wir das auch für die Klassen vier bis sechs fortsetzen. Doch es gibt Widerstand von Kolleginnen und Kollegen, die das Jahrgangs-übergreifende-Lernen ablehnen. Sie denken, dass sich Kinder nur in einer altershomogenen Gruppe gut entwickeln können – und diese ist ja auch schon sehr verschieden. Ich finde die gemischte Gruppe gut. Es kommen niemals 20 Kinder zusammen, die sich untereinander arrangieren müssen, Es gibt immer Kleingruppen, die in ein System kommen, in dem die Älteren sagen können: SO und SO ist die Struktur. Das hat auch einen sozialen Vorteil. Das ist auch für eine Autistin oder einen Autisten gut. Aber es braucht dazu Personal, geeignetes Personal. Es muss auch eine gute Vernetzung unter den Klassen geben, so dass die Unterrichtenden nicht überfordert sind, weil sie für drei Jahrgänge etwas vorbereiten müssen.
Bei uns ist es ganz gut eingespielt, dass sich zum Beispiel die Lehrerinnen und Lehrer für Mathematik aus allen Klassen zusammensetzen. Einer bereitet etwas für die Zweitklässler vor, eine für die Drittklässler, und so weiter. So werden die Aufgaben verteilt. Das Jahrgangs-übergreifende-Lernen bedeutet auch, als Gemeinschaft etwas zu gestalten. Trotzdem hat jede derartige Klasse ihren ganz individuellen Rahmen, weil es individuelle Lehrerinnen und Lehrer sind, die in einer individuellen Weise diese Klasse leiten.
Klaus: Die Lehrerinnen und Lehrer müssen also eine hohe soziale Kompetenz haben und in ihrem Beruf auch improvisieren wollen?
Stephanie: Ja.
Es ist ganz unterschiedlich. Es gibt Menschen, die in das Jahrgangs-übergreifende-Unterrichten hineinkommen wollen. Aber es ist ein langer Prozess. Und es gibt Menschen, die das nicht möchten. Das sind nicht unbedingt die schlechteren oder besseren Lehrerinnen und Lehrer. Sie können sich das nicht vorstellen.
Außerhalb des Unterrichtes arbeiten wir in allen Bereichen im ganzen Haus jahrgangs-übergreifend. Es sind immer drei bis vier Jahrgänge zusammen. So ist auch unsere Gesellschaft: Man ist niemals im Leben ausschliesslich mit der eigenen Altersgruppe zusammen.
Klaus: Gibt es für das Kollegium, die einzelnen Lehrerinnen und Lehrer Supervision? Eine Unterstützung, um sich mit der Qualität der eigenen Arbeit und der Frage, WIE man arbeitet, auseinander zu setzen?
Stephanie: Ja.
Das ist team-abhängig. Da unsere Schule einen freien Träger hat, wird Supervision überhaupt finanziert. Im öffentlichen Dienst ist das noch nicht üblich.
In unserer Schule ermöglichen wir es, dass alle Supervision nutzen können. Und wir haben damit gute Erfahrungen. Manche Teams machen seit Jahren regelmässig Supervision und brauchen das auch. Nach einiger Zeit stellen sie vielleicht fest: Wir wollen einmal eine Supervisorin oder einen Supervisor mit mehr Erfahrung im Autismus-Bereich haben. Andere Teams nehmen anlassbedingt Supervision in Anspruch.
Wir haben auch die Möglichkeit, an Schulpsychologinnen und Schulpsychologen heranzutreten. Wir stellen aber immer wieder fest dass es wichtig ist, die autismus-spezifische Sicht dabei zu haben.
Klaus: In Berlin gibt es neben der Temple-Grandin-Schule noch eine weitere vergleichbare Schule. Versteht Ihr Euch als Leuchtturm-Projekte? Gibt es anderswo in Europa vergleichbare Schulen oder Forschungs-Strukturen, mit denen ihr zusammen arbeitet?
Stepahnie: Mit der anderen Schule in Berlin sind wir in dem Sinne einzigartig. Ein Gymnasium in Berlin hat sich auf Autismus spezialisiert. In jedem Jahrgang gibt es eine Klasse, in die speziell Autistinnen und Autisten aufgenommen werden. In diesen Klassen gibt es eine andere Betreuungs-Intensität, die Betreuung durch zwei Pädagoginnen und Pädagogen gleichzeitig. Insofern gibt es auch andere Modelle. Es gibt noch ein weiteres derartiges Gymnasium. Es gibt auch Schulen, die Spezialisierungen und Arbeit mit Kleingruppen anbieten. Das weitet sich aus. Berlin fasst diese Schulen unter dem Namen inklusive Schwerpunktschule zusammen. Autismus kann einer von verschiedenen Schwerpunkten sein.
Das umfassende Modell allerdings, das den Anspruch hat, das ganze Autismus-Spektrum zu bedienen, ist an den zwei Berliner Schulen einzigartig. Eltern unserer Schule haben jetzt mit einer Schule in Gent/ Belgien einen Kontakt angebahnt. Wir nehmen auch in einem Erasmus-Plus-Projekt mit der Universität Leeds in Großbritannien, teil. Dabei wird zu Übergängen in die Schule und zwischen den Schulen geforscht. An diesem Projekt ist auch eine Nichtregierungsorganisation aus Bulgarien beteiligt. Wir wissen, dass es dort – egal ob es um Autismus oder anderes geht – nur über Nichtregierungsorganisationen in diesem Land möglich ist, Kindern mit besonderer Beeinträchtigung etwas anzubieten.
Autismus ist an den Universitäten kein Studienfach. Autismus wird meines Wissens nach nur an bestimmten Unis vertieft: Es gibt in Deutschland Heidelberg und Halle mit Georg Theunissen*.
In Deutschland sind wir als Auftrags-Schule einzigartig. In den angrenzenden Bundesländern wird Autismus unter geistiger Behinderung eingeordnet und in anderen unter psychischer Erkrankung. Das wird dem Autismus nicht gerecht und ist schade für die Betroffenen.
Klaus: Und was möchtest Du zum Schluss unseres Gesprächs sagen?
Stephanie: Ich finde es wichtig, dass es nicht ausschließlich der Autismus sein darf, mit dem man sich beschäftigt. Es geht immer um das Miteinander. Es ist nur gut, wenn wir miteinander in Kommunikation treten, um einer Vereinzelung vorzubeugen. Das funktioniert bei uns in der Schule: der Autismus ist ein Bereich, und die Kinder mit all ihren Bedürfnissen sind ein gleichwertiger Bereich. Das muss im Gleichgewicht gehalten werden. Für uns ist es wichtig, dass Schulen nicht zu groß werden dürfen, um jedes Kind zu sehen. Bei JEDEM Kind muss hingesehen und miteinander beraten werden. Es darf nie zu einer Einzelentscheidung kommen. Der Blick von vielen auf das Kind ist immer eine Bereicherung. Dann macht die Arbeit auch große Freude, wenn man gut in Kontakt ist.
Leider haben wir noch nicht das Gebäude, das wir eigentlich bräuchten. Doch die Arbeit, die an unserer Schule gemacht wird, ist herausragend.
Klaus: Danke für das Gespräch.
*Georg Theunissen hat den Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
*Literatur: Der Junge der zu viel fühlte, Lorenz Wagner, 2018, München, Berlin, Wien.
*Geniale Störung: Die geheime Geschichte des Autismus und warum wir Menschen brauchen, die anders denken, Steve Silberman, New York, 2016
*Buntschatten und Fledermäuse, Axel Brauns (Autobiografie), München, 2004
*Schattenspringer – Wie es ist, anders zu sein, Daniela Schreiter Graphic Novel (mittlerweile mehrere Bände)
*Gee Vero Projekt The Art of Inclusion
*Fuchsteufelsstill, Niah Finnik, Berlin, 2017
Feines Interview, wieder etwas gelernt!
Buchtip:
Supergute Tage – oder die sonderbare Welt des Christopher Boone, Mark Haddon, München, 2006