Ich bin fett geworden – glaub ich. Jedes mal wenn ich die letzten Monate mit der U-Bahn durch Wien gefahren bin habe ich all die Zeit unter der Erde an einem Stück Schokolade gelutscht, damit ich keine FFP2-Maske aufsetzen muss. Das hat gut funktioniert – bis auf leichte Zahnschmerzen und das Fett.
„Fat man is in da Haus“ schreit Dimitri als ich durch die Tür in den Speisesaal des Seniorenheims kugle. Er reisst eine Hand hoch – rot, grün und gelb. Farbig wie der Tisch an dem er steht.
Ich: „Was geht ab?“
Olia: „Ich bemale zusammen mit Dimitri, Paco, der mit dem Lächeln und der mit dem Kreuz diese T-Shirts hier.“
Sie zieht zum Beweis bunte Fetzen aus einem grossen blauen Plastiksack.
Olia: „Das ist ein Projekt von Joy. Die Fetzen werden auf dem Weihnachtsmarkt vom Seniorenheim verkauft. Es sind gebrauchte T-Shirts auf die wir mit waschfesten Fingerfarben kleine Vögelchen, Blümchen, Marienkäfer und Bienen malen. Und über allem steht auf russisch „ дезертиры приветствуются „ oder ukrainisch „ дезертири вітаються “. Natürlich haben wir Joy gesagt da heisst „Frohe Weihnachten“. Das ist nicht wirklich gelogen. Wir sind gespannt, ob die T-Shirts gekauft werden. Sticken oder Socken stricken hat Joy auch vorgeschlagen – Paco und Dimitri sollten das machen – , aber ihre Finger sind nicht mehr so beweglich – haben sie gesagt. Wir können nur noch mit waschfesten Fingerfarben bunte Kleckse und krakelige Buchstaben auf T-Shirts schmieren. Die anderen Seniorenheime werden schickere Dinger machen – vielleicht kleine Engel mit Watte und Schokopapier, die Behinderteneinrichtung (ich weiss dass die nicht mehr so genannt werden darf, aber ich habe das richtige Wort wieder vergessen – erstes Anzeichen von Demenz) machen Trockenkränze, und die Arbeitsloseneinrichtung – (ich weiss dass die nicht mehr so genannt werden darf, aber ich habe das Wort schon wieder vergessen – erstes Anzeichen von Demenz) – basteln Anstecker aus Bierkapseln und Dosen.
Maresi hätte unsere T-Shirts geliebt. Aber wahrscheinlich hätte sie nicht dicht gehalten und behauptet, dass da eigentlich „Deserteure willkommen“ draufsteht. Manchmal ist es gut, dass sie nicht mehr da ist.“
„Hast Du das Lied dabei fat man?“ schreit Dimitri.
Ich drücke ab: Steve Miller Band, „Never kill another man“, 1970
Die fünf mit den farbigen Fingern drücken sich an andere Alte, die dadurch auch etwas farbiger werden, und wiegen mit ihnen hin und her.
„As my time rolls out – as my time rolls out – if i can make it – if i can ma a ake it – i never kill another man – with these hands“ tönen sie mit dem Lied, das ich im Loop spielen muss, weil es zu kurz ist für eine Seniorentanznummer. Alle machen dabei die Augen zu – bald ist Weihnachten.
Bis zum nächsten mal, eurer Miklós Nemuszáj