Eine kalte Umarmung lässt mein Herz stocken. Ich kann nicht mehr Atmen. Das Wasser ist zu kalt im Vergleich zur flirrenden Hitze auf der Lagerwiese Rehlacke. Diese Hitze hat mich in die Donau getrieben – in die Alte Donau. Ich tauche ab. Mein Herz schlägt wieder, ich rudere hin und her mit Armen und Beinen.
Ein winziges Kind am Badesteg winkt mich zu sich. Ich schwimme drauf los.
„MEINS!“ ruft es und zeigt vor sich ins Wasser. Ich tauche an der Stelle. Ein flacher Goldbarren mit seiner schwarzen Seite nach unten liegt da am Grund. Er glitscht mir weg. Ich muss noch einmal Luft holen. „MEINS“ ruft es und zeigt nach unten auf das Glitzernde.
Beim zweiten Versuch kann ich das Ding festhalten und nach oben tragen. Es ist ein Wischtelefon. Das kleine, wo inzwischen auf dem Steg kniet, reisst es mir aus der Hand und läuft damit weg.
„Jesus!“ ruft eine Frau von der Lagerwiese. „Jesus! Wie oft muss ich Dir noch sagen: das ist kein Spielzeug!“ Die Mutter dieses Kindes ist die schönste Frau, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Bevor ich wieder in der Alten Donau untergehe, kann ich ein Schild am Steg lesen: Siedlung Mexiko.
„Maria!“ schreit der mit dem Bart.
„Vater!“ schreit die schönste Frau der Welt.
Der mit dem Bart steht von seinem Stuhl auf und drückt sie an seinen Oberkörper. Beide weinen. Das winzige Kind, dass die Mutter am Eingang hat stehen lassen, schaut weg. Jetzt sind wir wieder im Seniorenheim.
Herr Feuermacher hat mir gesagt: „Es ist egal ob die Leute Katalanisch gesprochen haben oder Russisch oder Polnisch. Du schreibst in DEINEM Text die Dialoge in Deutsch. Sonst liest das kein Mensch! Und das ganze Hin- und Herfragen, die Übersetzungen, die Fehler beim Übersetzen, die ganzen unsinnigen Wortspielereien … das alles streichst du wieder raus! Tu einfach so, als ob es auf der Welt nur eine einzige Sprache gäbe. Das ist gelogen, aber deine Leser und Leserinnen werden es lieben. Und du möchtest dass deine Leser und Leserinnen deinen Text lieben. ICH will das so!“
Was bleibt mir übrig, sonst löscht er meinen Text aus dem Blog oder schlimmer: er korrigiert selbst in meiner Kolumne herum. Was ich im Seniorenheim beschreibe, ist also gelogen – irgendwie. Und gleichzeitig ist es die volle Wahrheit.
„Wo ist Immaculata?“
„Sie ist tot.“
„Gut.“
Die menschgewordene Göttin dreht sich zu dem Kind, das immer noch am Eingang steht und die Alten anstarrt, die das Paar anstarren: „Jesus, komm! Das ist Dein Grossvater Jesus.“
Jesus kommt etwas steif zu Jesus und gibt ihm die Hand. Drei Hände kleiner Jesus hätten in die Hand des grossen Jesus gepasst. Jesus hebt ihn hoch, weit weg vom Boden, drückt ihn an sein klopfendes Herz und an sein nasses Gesicht. Der kleine strampelt. Seine Mutter nimmt ihn wieder an die Hand.
„Warum hast Du nicht?“
„Immaculata!“
„Um warum Du?“
„Immaculata.“
„Ist das Dein Kind?“
„Freiwillige Empfängnis.“
Der mit dem Bart nickt und setzt sich wieder hin.
„Ich dachte Mexiko wäre Mexiko-City in Mexiko in Mittelamerika. Aber Mexiko ist gar nicht in Mittelamerika. Mexiko ist in Wien. Gegenüber vom Gänsehäufel.“ höre ich mich sagen.
Olia: „Nemuszáj, du bist ein Idiot, aber das machst du wirklich gut.“
Meidner platzt in die Rührung: „Was geht hier vor sich? Besuche nur nach Vereinbarung und nach Vorlage eines gültigen PCR-Tests.“
„Ich heisse Maria Walder. Mein Mann ist Osttiroler.“ sagt die Frau, die ich anbeten könnte, mit festem Blick.
„Ach so, aber Sie hätten trotzdem, …“
„Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt.“ sagt Maresi, aber ich glaube Meidner hört sie nicht.
„Das ist mein privater Ermittler.“ sagt die wunderschöne Frau und zeigt auf mich.
„Ah, Herr Nemuszáj. Wir kennen uns.“ zwitschert Meidner und schaut mir in die Augen.
„Ja, Herr Meidner. Ich kenne Sie. Ich komme schon ein Jahr lang regelmässig in dieses Seniorenheim.“ höre ich mich sagen.
Meidner sagt zu der einzigen Frau, die ich im Saal wahrnehmen kann: „Entschuldigen Sie meine Störung, Frau Walder. Was kann ich für Sie tun? Seien wir nicht so formell.“
„Nicht formell? Das hört sich gut an. Ich bin gekommen meinen Vater abzuholen.“
„Abholen? Das geht nicht so leicht wie sie denken: das Zimmer und die Mahlzeiten sind gebucht. Es gibt eine Kündigungsfrist, ...“ sprudelt Meidner.
„Kein Problem. Ich lasse Ihnen dafür Paco und Dimitri da. HE DIMITRI KOMM REIN!“
Zwei Schwarze mit grauen Haaren, die anscheinend vor der Tür – in Hörweite – gewartet haben, stehen vor Meidner. Einer ist zwei Köpfe grösser, der andere auf Augenhöhe.
„Aber, – Moment bitte, – es handelt sich um EIN Zimmer, …“ murmelt Meidner.
„Anastasiia Bereza, Irena Karvasai, Olia Tsvihun, Yuliia Trukhanov haben in diesem Seniorenheim in EINEM Zimmer zusammen gelebt. Monate lang. Das war alles völlig legal.“ kommt es aus meinem Mund.
Meidner atmet durch: „Ich muss ins Büro und mir den Akt anschaun.“ Dann geht er ab.
Die Alten kommen näher.
Olia zu den Schwarzen: „Wo seid ihr beiden denn her?“
„Mexiko!“ sagt Dimitri. „Maria und Jesus haben bei uns gewohnt und uns betreut. Maria hat gesagt, das wird ihr aber alles zu viel. Sie muss sich jetzt um ihren Vater kümmern. Das verstehen wir. Unsere Abmachung ist: Vollpension für uns beide und näher am Steffl wohnen. Stadlau ist in Ordnung – für eine Zeit, aber nicht für immer.“ Paco nickt zustimmend.
Paco und Dimitri haben sich dieses Lied gewünscht:
„Exodus, Bob Marley and the Wailers, 1977“
Ich arbeite.
Der mit dem Bart tanzt als hätte sein Körper ein halbes Leben auf diesen Tanz gewartet.
„Bis er meine Mutter kennen gelernt hat, hatte mein Vater Dreads bis zum Arsch.“ sagt Maria.
„Du hast da noch gar nicht gelebt.“ sagt Olia.
„Meine Mutter hat mir das erzählt. Sie war stolz drauf die Haare abgeschnitten zu haben. Zum Liebesbeweis.“
„Immaculata?“ fragt der mit dem Bart.
„Ist tot.“ sagt Maria.
Maresi grinst über das ganze Gesicht.
Die Alten tanzen weiter.
Bis zum nächsten mal, euer Miklós Nemuszáj