Ich lasse die Glastür schwingen und gehe den Gang entlang Richtung Speisesaal. Plötzlich tritt Meidner, die Heimleitung, aus einer Tür und versperrt mir den Weg.
Meidner: Grüss Sie, Herr Nemuszáj.
Ich: Grüssie
Meidner: Ich muss sagen, Sie machen ihre Sache gut, hier. Wir sind mit Ihnen mehr zufrieden als wir es mit Frau Leitner waren. Sie haben wirklich einen Draht zu unseren Bewohnerinnen und Bewohnern. Das hab ich gleich gespürt.
Ich halte meine Hand hin, aber Meidner tut so, als wäre sie unsichtbar und redet weiter.
Meidner: Machen Sie sich keine Gedanken darüber, dass die Gruppe erst einmal kleiner geworden ist. Wir haben die Plätze schon wieder in der Verteilung.
Ich: ?
Meidner: Corona war es nicht. Da brauchen Sie keine Angst zu haben, auch wenn in dem ein oder andern Totenscheinen vielleicht etwas anderes steht. Ich glaube da war was im vorportionierten Salat. Vielleicht Salmonellen. Das wird noch untersucht. Wir haben auf jeden Fall den Caterer gewechselt. Der neue bietet sogar ein Veganes Menue an, also auch da eine Verbesserung.
Ich: Ist jemand gestorben?
Meidner: Ja wo glauben Sie denn wo Sie sind. In einem Seniorenheim wird immer gestorben. Wir sterben alle – auf kurz oder lang – deshalb sind sie hier, deshalb haben sie hier ein Zimmer. Hier kommt keiner lebend raus. Herr Nemuszáj, melden Sie sich bitte bei mir bevor Sie wieder gehen, vielleicht gibt es da eine Möglichkeit Sie für ein paar Stunden offiziell zu beschäftigen.
Meidner dematerialisiert so schnell wie die Erscheinung im Gang aufgetaucht ist. Eine Tür fällt zu. Ich stecke meine Hand wieder in den Hosensack.
Olia kommt mir vom Speisesaal aus entgegen: Die Beerdigung von Maresi und den anderen war vergangene Woche. Für einen Moment haben wir gedacht, dass du kommst. Aber wir verstehen auch, dass du nicht da warst.
Ich: Ich wusste nichts davon.
Olia: Wahrscheinlich hat dich keiner angerufen. Du wohnst ja nicht mehr da wo wir dich finden können.
Die Tür zum Speisesaal geht weit auf.
Die mit dem Lächeln winkt mich her: Komm rein, wir warten auf Dich.
Als ich durch die Tür komme schreit der mit dem Bart: Formación del Espíritu Nacional?
Olia: Nein, wir haben Gedächtnistraining.
Der mit dem Bart: Jeden Samstag in der letzten Unterrichtsstunde vor dem Wochenende ist Formación del Espíritu Nacional.
Die mit dem Lächeln: Es ist Dienstag, Jesus. Dienstag.
Der mit dem Bart: In der Volksschule war ich immer in der Bata de la Escuela, weiss und blau, weiss und blau.
Olia zu mir: Hattet ihr das in Ungarn auch? Formación del Espíritu Nacional?
Ich: Was soll das sein?
Olia: Hattet ihr Marxismus-Leninismus als Unterrichtsfach?
Ich: Vielleicht meine Mam, aber bei mir gabs so was nicht.
Die mit dem Lächeln: Hattest Du nicht wenigstens ESP? Bei uns in Deutschland gabs das ab der siebten.
Ich: No ESP.
Die mit dem Lächeln: ESP heisst Einführung in die Sozialistische Produktion. Immer mal praktische Arbeit in der Produktion und dann Wirtschaftskunde. Schrauben sortieren und dann im Unterricht hören wozu du die Schrauben sortierst: für den Frieden, für die Revolutionäre im befreundeten Ausland. Zum Beispiel in Ungarn …
Ich: Hier mit euch, das ist meine Arbeit.
Die mit dem Lächeln: Maresi hat uns erzählt du bist irgendwo in Wien Praktikant? Einführung in die Produktion gibts also immer noch. Ist halt nicht ESP, sondern EKP also Einführung in die Kapitalistische Produktion.
Olia: Ich glaube die Erklärung was das Praktikum soll, wozu es dient und in welchem Wirtschaftssystem es warum stattfindet gibts nicht.
Ich: Hab ich hier in Wien gemacht: ein Praktikum. Ja, und dann noch eins und noch eins. Na klar bin ich Praktikant. Aber die zahlen halt nichts. …
Die mit dem Lächeln: Warst Du wenigstens bei den Pioniernachmittagen?
Olia: Der war nicht bei den Pionieren.
Ich: Ich war nicht bei den Pionieren und auch nicht bei den Pfadfindern.
Der mit dem Bart: Kein Bata de la Escuela? Kein Bata de Colegio?
Ich: Meine Mam hasst Uniformen.
Die mit dem Lächeln: Eine Kindheit ohne Uniform? Wo gibt’s das?
Ich: No uniform.
Olia: Was? Du tauchst hier auf in Jeans, deinen schäbigen Schuhen, Kapuzenjacke und einem Tatoo auf der Hand und behauptest das wär keine Uniform? Als du eine Maske aufhattest wusste ich nicht ob du Junge oder Mädchen bist. Ich hätte dich mit tausenden verwechseln können in deiner Uniform.
Ich: Lass mich. Be nice. Ich bin hier um mit euch Musik zu hören und not for depression.
Der mit dem Bart: Wenn Du für Deine Arbeit als Praktikant kein Geld bekommst wer gibt Dir welches?
Ich: Ihr.
Olia: Maresi hat dir Geld gegeben. Die im Rollstuhl hatte auch genug, ihr Sohn ist Arzt. Aber wir jetzt hier, das reicht nicht. Wo kommt der Rest her, den du brauchst, zum Beispiel für deine Wohnung.
Ich: Hab keine mehr.
Die mit dem Lächeln: Der mit dem Rollator hat gesagt du wohnst da nicht mehr.
Olia: Wo schläfst Du?
Ich: Mal hier mal da.
Die mit dem Lächeln: Suchst du was?
Ich: Ich hab nicht genug cash. Ist alles zu teuer.
Der mit dem Bart: Kann ich helfen? Meine Tochter kommt mich abholen. Du kannst mit uns nach Mexiko.
Ich: Kann kein Spanisch.
Die mit dem Lächeln: Jesus war noch nie in Mexiko. Er hat nur einen Brief von seiner Tochter mit einer mexikanischen Briefmarke.
Der mit dem Bart: Du bist nur neidig.
Olia: Hier im Seniorenheim kann er nicht bleiben.
Die mit dem Lächeln: Das will auch niemand.
Ich spiele ihnen das was sie sich gewünscht haben:
„C’est si bon“ 1947, Henri Betti und André Hornez
Bis zum nächsten mal, euer Miklós Nemuszáj
Trotz aller Widrigkeiten sehr vergnüglich! (Wieder einmal!)