„Gut, dass Sie kommen, ich habe schon auf Sie gewartet! Die Alten haben gesagt, dass Sie der Ansprechpartner für mich sind. Wissen Sie, ich bin so froh, dass es hier in diesem Heim so jemanden gibt wie Sie. Dass auch an die Angehörigen gedacht ist.“ sagt ein Typ zu mir, der der kleine Bruder von Maria sein könnte. Gut, dass er mich anspricht, aber was macht er im Seniorenheim?
Ehe ich mich versehe, sitze ich neben ihm an einem Tisch mit weisser Plastikoberfläche – wischfest ist hier alles. Der Typ legt jetzt auch noch seine Hand auf meine Hand. Aus den Augenwinkeln sehe ich: der Speisesaal ist voll mit Alten, in Rollstühlen und an den Tischen. Wie immer stehen die Rollatoren genau da, wo sie stören.
„Meine Schwester wurde vorgestern hier eingeliefert. Es war nur jemand von der Verwaltung da bisher, aber Sie waren anscheinend bis jetzt im Urlaub?“
Was meint der Typ mit Urlaub? Urlaub von was? Urlaub mit was? Urlaub wo? Urlaub mit wem? Vielleicht mit ihm? Er hat grünbraune Augen und sein rechtes Auge scheint ein wenig grösser zu sein als das linke.
„Wo soll ich anfangen? Also Weihnachten war einfach zu viel für sie. Das hat sie nicht verkraftet mit der Familie. Wir waren in Tirol auf einer kleinen Hütte, wo wir immer hinfahren. Das hat meine Familie schon angefangen als es noch echt Schnee gab. Jedenfalls war sie auf einmal nicht mehr in ihrem Zimmer und nicht in der Zirbenstube. Als wir sie gefunden haben, hat sie schon irgendwie tot gewirkt, aber meine Mutter hat den Notarzt gerufen und der hat sie dann wiederbelebt. Ich konnte gar nicht hinschaun.“
Warum schaut der immer mich an? Was will er von mir? Für wen hält der mich?
„Irgendwie war es mit der Wiederbelebung wohl doch ein bisschen zu spät. Das Gehirn war eine Zeit unterversorgt – hat die Ärztin gesagt. Also DIE dann im Spital. Die haben sie mit dem Hubschrauber hingebracht. Und jetzt sitzt sie DA.“
Der Typ zeigt auf einen Rollstuhl, der so nah ist, dass ich ihn übersehen hatte. Darin sitzt eine Frau mit einer riesigen bunten Brille und einem ganz eigenen Gesichtsausdruck, die durch alles hindurchschaut. Sie ist wahrscheinlich ein Jahr jünger als ich. Was macht die im Seniorenheim. Die ist keine Seniorin. Die gehört da nicht hin. Ich glaube das werde ich ihm sagen sobald er mir eine Lücke im Text lässt.
Der Typ zu ihr: „Monika! Moni! Mo! – MoO!“ und wieder zu mir: „Sie reagiert manchmal überhaupt nicht mehr. Ich weiss nicht ob sie wirklich hierher wollte. Wir konnten sie nicht fragen. Gefragt haben wir sie natürlich, aber sie konnte nicht antworten. Wissen Sie: wir arbeiten alle. Wir sind alle berufstätig. Niemand hat die Zeit, die es brauchen würde um sich um so jemanden zu kümmern – wie meine Schwester. Ich glaube für meine Mutter ist es am Schwersten. Vater hat sich nie viel aus Moni gemacht. Ich glaube er war schon damit zufrieden, dass er EINEN Jungen hatte. Also mich. Auf jeden Fall haben die im Krankenhaus sie hierher bringen lassen. Wir – also meine Mutter – haben natürlich alles unterschrieben. Aber mich macht das total unruhig mit meiner Schwester. Wenn die hier so sitzt. Unter lauter uralten Leuten irgendwie völlig deplaziert.“
Der kommt von allein drauf. Wahrscheinlich muss ich gar nicht viel sagen. Der merkt, dass seine Schwester wo anders hingehört und nimmt sie wieder mit.
„Von all den Einrichtungen, die der Sozialdienst angerufen hat, war hier gerade ein Zimmer frei: barrierefreier Zugang, Erdgeschoss, mit eigenem barrierefreien Bad und Toilette. Bestimmt lernt sie bald wieder sich selbst zu waschen. Ich weiss gar nicht wer das im Moment macht. Sie ist zwar meine Schwester, aber ich glaube ich könnte das nicht. Auch wenn ich mir das vornehmen würde. Können Sie das verstehen?“
Er macht eine kleine Pause, das ist meine Chance etwas zu sagen. Klar zu stellen, dass ich hier nur das Gedächtnistraining für die Alten mache. Ein mal im Monat. Ich kann nicht der sein für den er mich hält. Vielleicht frag ich ihn einfach wer er glaubt, dass ich bin.
„Mo hat immer so gut gezeichnet. Sie hat schon wo sie klein war jeden von uns auf einem Bierfilz im Lokal hingekritzelt, so dass wir genau erkennen konnten wer wer war. Immer hatte sie Stifte dabei. Schwerpunkt Kunst an der Schule und wie das so weiter geht. Kaum war sie fertig hatte sie einen Job bei einer Animationsfirma. Computer-Animationen. Ich hab sie damals beneidet. Sie hat Anime immer geliebt – wahrscheinlich liebt sie sie immer noch. Ich hab sie dann nur noch ganz selten gesehen. Das mit den Stiften hat ihr wahrscheinlich besser gefallen als die ganze Zeit vor dem Bildschirm, aber so macht man das professionell. Ist zeitsparender. Im November hat sie mich plötzlich angerufen: sie müsste mal mit jemandem sprechen. Ich dachte mir: vielleicht hat sie eine Depression – Novemberdepression. Sonst war sie immer sehr stabil. Hab ein paar Adressen von Therapeuten mitgenommen zu unserem Treffen. Aber dann im Kaffeehaus hat sie erzählt, dass sie in der Firma befördert worden ist. Sie ist jetzt Art Directorin. Beziehungsweise stimmt jetzt wohl: sie WAR Art Directorin. Jedenfalls hat die Firma für sie eine neue Software, also einen Zugang zu einer Cloud mit KI besorgt, die sie mal ausprobieren sollte. Wenn man der KI sagte: „Antilope mit zwei Windrädern statt der Hörner„, hat die in einem Wimpernschlag fünf Bilder vorgelegt. Moni hätte fünf Stunden für die Zeichnungen in der gleichen Qualität gebraucht. „Weisst Du“ – hat sie gesagt – „ich dachte immer KI sollte den Menschen die unangenehmen Tätigkeiten wegnehmen, damit nur noch das kreative und angenehme bleibt. Aber die KI hat mir das weggenommen was ICH war. Jetzt bleibt mir der Scheiss: aus hunderten von Bildern online das beste auszusuchen. Das habe ich immer gehasst: tausend Urlaubsbilder und ich werde gefragt ob ich nicht eine kleine Dokumentation mit den 15 besten zusammenstelle. Weil mir das doch Spass macht. Das macht keinen Spass, das ist Verblödung. Totale Verblödung.“ Sie war so sauer wie ich sie selten erlebt hab. Auf jeden Fall war das keine Depression. Da sind die Leute ja schlapp und eher traurig – ODER?“
Jetzt schaut der mich an als wüsste ICH was eine Depression ist. Hält mich der für einen Psychologen? Oder den Haustherapeuten? Lustig, wenn es hier einen Haustherapeuten gäbe.
„Ich weiss nicht was passiert ist. An Weihnachten hat Mama Moni gefragt ob sie nicht ein kleines Andenken-Büchlein von unserem gemeinsamen Fest macht. So eins, das man online zusammenstellt und dann bekommt man so viele Exemplare geschickt, dass auch Tante Gerda und Tante Susi eins haben können. Mo hat nichts dazu gesagt. Wir dachten das wäre ein JA. Dann war sie weg.“
„Ich spiele hier Musik ab. DAS ist es was ich mache …“ schnappe ich mir ein paar Sekunden Sprechzeit.
„Hey, Sie sind ein Profi. Super Intervention. Ich glaube sie war ein totaler Fan von Grace Jones. Ihre Lieblingsnummer war:“ Grace Jones, „Corporate Cannibal“, 2008.
Ich seufze, wische auf meinem Telefon und lass das Lied hören.
Monika lächelt.
Der Typ sieht es, ist begeistert, drückt mir die Hand und geht. Zufrieden.
Bis zum nächsten mal, eurer Miklós Nemuszáj